Wissen, Wissensgesellschaft und Wissensmanagement

*Eine ausführliche Version des Textes und die vollständigen Literaturangaben zu den aufgeführten Referenzen finden sich im hier vorgestellten Buch.

Wissensgesellschaft

Die Beschreibung unserer Gesellschaft als Wissensgesellschaft ist nur ein Ansatz von vielen möglichen, um die Gesellschaft zu beschreiben, in der wir gegenwärtig leben oder zu der wir uns in naher Zukunft wandeln (wollen) (andere Autoren präfieren zum Beispiel die Beschreibungen als Mediengesellschaft, Risikogesellschaft, Multioptions-Gesellschaft, individualiserte Gesellschaft, multikulturelle Gesellschaft, globale Gesellschaft; vgl. z.B. Pongs 1999, 2000). Vor allem anderen, bedeutet die Beschreibung unserer Gesellschaft als Wissensgesellschaft eine Selbstbeschreibung der Gesellschaft, in der wir leben, aus einer inneren Perspektive (vgl. z.B. Nassehi 2000a).

Krohn (2000) identifiziert zwei Sets von Variablen, die den sozialen Wandel zur Wissensgesellschaft belegen: technologische Innovation und institutionelle Transformation. Den gemeinsamen Fokus dieser beiden Aspekte beschreibt Krohn (2000: 1) so: “the impact of technological change on the organizational and cultural institutions of society as well as on the enormous monetary and cultural investments of corporate and individual agencies in developing and using new knowledge”.



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Die Begriffsbildung der Wissensgesellschaft ist stark durch die frühen Studien der 1960er Jahre zur (wirtschaftlich) bedeutenden Rolle von Wissen beeinflusst. Der Beitrag von Wissensarbeit zur (Volks-) Wirtschaft wurde zuerst klar herausgestellt von Fritz Machlup (1962) (zum Aufkommen des Begriffes der Wissensarbeit siehe Hayman and Elliman 2000). Peter Drucker (1969) hat in seinem einflussreichen Werk Anleitungen zum erfolgreichen Umgang mit den Diskontinuitäten durch die neuen Informationstechnologien und Wissensarbeit beschrieben. Robert E. Lane (1966) ist bekannt als einer der ersten Autoren, der den Begriff der “knowledgeable society” verwendet hat. In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren haben Amitai Etzioni (1968) und Daniel Bell (1975 (1973)) die aufkommende vorherrschende Rolle (vor allem des theoretischen) Wissens als neues “axiales Prinzip” der Gesellschaft vor allem in den Feldern von Politik, Arbeit und Wissenschaft untersucht.

Parallele Argumentationslinien finden sich bei den Reform-Marxisten im Richta-Report (Richta 1971) von 1968 und im Japanischen “Plan for an Information Society” von 1972 (vgl. Masuda 1990 (1981)). Porat (1977) hat mit einem größeren Set empirischer Daten entscheidend zur Skizzierung des Wandels zur Wissensgesellschaft beigetragen. Lyon (1988) hat über die Validität des Konzepts einer Informationsgesellschaft reflektiert und Edelstein (1978) hat die verschiedenen Entwicklungen in den USA und Japan in einer vergleichenden Analyse studiert (wie zitiert bei Krohn 2000).

In den 1980er und frühen 1990er Jahren hat sich das akademische und öffentliche Interesse verstärkt und das allgemeine Thema der gesellschaftlichen Bedeutung von Wissen um ein breites Feld verschiedener Untersuchungen erweitert (Krohn 2000: 1-2): die Rekonstruktion von Klassenstrukturen in der Wissensgesellschaft (Schiller 1984 (1981)) und ihr Verhältnis zum Postmodernismus (Lyotard 1984; Poster 1990) waren die einflussreichsten.

Die steigende Popularität des Begriffs “Wissensgesellschaft” in den 1990er Jahre wurde vor allem durch die Arbeiten von Peter Drucker und Robert Reich, beides Forscher für Management-Theorie, befördert. Die Betriebswirtschaftslehre betont vor allem als Merkmale der Wissensgesellschaft die Bedeutung von Expertenkultur (vgl. verchiedene Beiträge in Stehr and Ericson 1992) und des intellektuellen Kapitals als Wert von Organisationen (Stewart 1997). Die OECD kann als wichtiger Katalysator der Entwicklung zu wissensbasierten Gesellschaft identifiziert werden mit ihrem einflussreichen Arbeitspapier aus dem Jahr 1996 (OECD 1996) und verschiedenen nachfolgenden Reports und Aktivitäten (z.B. OECD 2001a,b). In Deutschland hat der Deutsche Bundestag ein umfassendes Dokument zur globalen Wissensgesellschaft erarbeitet (Enquête-Kommission 2002: 259-308).

Verglichen mit den ersten Studien und Erwartungen bezüglich des Wandels zur Wissensgesellschaft, wie sie in den 1960er und 1970er Jahren aufgekommen waren, hat sich bis heute vieles verändert. Professionelle Wissensarbeiter sehen sich nicht so sehr mit der Aufgabe konfrontiert, igendeine Lösung für ein vorhandenes Problem zu finden, sondern haben eher das Problem, dass sie zu viel wissen, um eine Lösung erreichen und die dazu erforderlichen Handlungen innerhalb einer gegebenen Zeit zu auszuwählen und umzusetzen (vgl. die zahlreichen Beiträge in Hennings et al. 2003).

Double-Layered Knowlegde Life Cycle

Double-Layered Knowlegde Life Cycle (Source: Müller-Prothmann 2006, p. 51)

Wissen ist nicht mehr nur die Ressource industrieller Produktion, sondern auch ihr Gegenstand selbst. Die kritischen Faktoren heute sind nicht die “knowledge assets” (oder Repositories), sondern die Strukturen und Proezsse der Wissensproduktion und des Wissenstransfers. Und da wir alle wissen, dass es nicht die eine Lösung gibt, sofern sie überhaupt existiert, haben wir uns zum Ziel gesetzt, einige wichtige kleine Schritte zu beschreiben, die neue analytische Einsichten versprechen und praxisrelevante Methoden bereitsstellen, um diese kritischen Faktoren der Wissensproduktion und des Wissenstransfers in Ihrer Organisation zu adressieren. Wenn wir die Vision einer Wissensgesellschaft nicht in die Nutzlosigkeit verkehren wollen, dann sollten wir versuchen, gemeinsam mit Ihnen die Komplexitäten als zentralen Bestandteil von wissen anzuerkennen und in unsere Handlungen systematisch zu integrieren. Unter dieser Perspektive hat die Wissensgesellschaft nicht die Reduktion und Überwindung von Komplexität zum Gegenstand, sondern zielt auf den Umgang mit ihnen und den Versuch, mit diesen Bedingungen zu leben, und sie durch individuelle, organisationale, technologische und gesellschaftliche Strategien und Anpassungsprozesse zu nutzen und zu gestalten.

Wissens-Framework

Wenn wir die verschiedenen Aspekte von Wissen in Kürze zusammenfassen wollen, dann können wir uns an Wenger et al. (2002: 8-11) anlehnen, die Wissen wie folgt beschreiben:

  • Wissen lebt im menschlichen Akt des Wissens,
  • Wissen ist sowohl implizit (“tacit”) als auch explizit,
  • Wissen ist sowohl sozial wie auch individuell,
  • Wissen ist dynamisch.

Wissen, wie es hier verstanden werden soll, ist ein menschlicher Akt und sozial konstruiert. “From the perspective of common sense, the world of everyday life is taken for granted as reality. It is simply, compelling, and self-evidently there” (Holzner and Marx 1979: 81). Aus dieser Pespektive kann Wissen nicht die Erfassung der Realität selbst meinen, sondern nur die Abbild (“mapping”) erfahrener Realität eines Beobachters: “we are compelled to define ‘knowledge’ as the communicable mapping of some aspect of experienced reality by an observer in symbolic terms” (Holzner 1968: 20; zitiert in Holzner and Marx 1979: 93). Bezugsrahmen sind definiert als Strukturen, die aus als wahr betrachteten Annahmen, gemeinsamen Symbolsystemen und analytischen Bausteinen bestehen, mit denen und innerhalb derer sich die Untersuchung eines Beobachters vollzieht und die explizit kodifiziert und artikuliert werden können oder die implizit bleiben und einer spezifischen symbolischen Artikulation ermangeln (Holzner and Marx 1979: 99-100). Ob präzise spezifiert und artikuliert oder nicht, jeder Bezugsrahmen “contains a limited set of rules for mapping alternative frames of reference” (Holzner and Marx 1979: 102). Diese Argumentation führt Holzner und Marx dazu, die soziale Validierung von Wissen als intersubjektive Räume innerhalb des Kontextes von gemeinsamen Bezugrahmen und durch Realtitätstests zu beschreiben (Holzner and Marx 1979: 103-106).

Charakter und Prozesse der Konstruktion intellektueller Objekte unterscheiden sich in den Sozialwissenschaften von der Konstruktion von Alltagswissen (Schütz 1971: 39-76). Nach Berger und Luckmann, sollte sich die Wissenssoziologie (sociology of knowledge) mit allem befassen “whatever passes for ‘knowledge’ in a society, regardless of the ultimate validity or invalidity (by whatever criteria) of such ‘knowledge’” (Berger and Luckmann 1967 (1966): 3). Unter diesem Gesichtspunkt, ist der Gegenstand der Wissenssoziologie “all human ‘knowledge’ [that] is developed, transmitted and maintained in social situations” und das Verstehen der damit verbundenen Prozesse (Berger and Luckmann 1967 (1966): 3). Genau diese Konzeption von Wissen ist für uns eine hilfreiche Definition für die Analyse und Unterstützung von Wissen und Prozessen der Wissensgenerierung, des Wissenstransfers und der Wisssenserhaltung in und zwischen Organisationen. Aus unserer Perspektive schliesst Wissen alles menschliche Wissen ein, das in organisationalen Zusammenhängen erzeugt, übertragen erhalten und – wichtig, hinzufügen – vergessen wird.

Organisationale Situationen, die Wissensprozesse beinhalten, sind immer sozial konstruiert. Max Weber hat die bekannte Unterscheidung zwischen Verhalten, Handeln und sozialem Handeln in der Soziologie eingeführt. Im Anschluss an diese Unterscheidung konstituiert sich Wissenskommunikation in sozialen Netzwerken unvermeidlich als soziale Wissenskommunikation. Wissenskommunikation in sozialen Netzen ist Kommunikation von Wissen zwischen sozialen Entitäten die in Ihrem Zweck gegenseitig aufeinander ausgerichtet sind. Ein handelndes Individuum verbindet eine subjektive Meinung mit seiner Kommunikation von Wissen während es das Verhalten seines Gegenübers dabei einbezieht und davon geleitet wird. Dieser soziale Fokus auf Prozesse der Wissenskommunikation bezieht Faktoren und Vorraussetzungen der gegenseitigen Orientierung handelnder Individuen ausdrücklich mit ein, wie z.B. eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Standards oder soziale und situationsspezifische Normen.


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Wissensmanagement (Knowledge Management)

Ganz allgemein ausgedrückt, werden ökonomische Beziehungen für die Lösung von Problemen der beteiligten ökonomischen Subjekte entwickelt. Beginnend in der 1960er Jahren, haben die Information Economics (Stigler 1961) Informationsprozesse auf Basis von Kosten-Nutzen-Kalkulationen untersucht, die von der Behandlung von Informationen als Wirtschaftsgut abgeleitet wurden (vgl. Darby and Karni 1973; Nelson 1970). Die Neue Institutionenökonomie (new institutional economics) hat die Grundlage für Studien von institutionellen und organisationalen Strukturen gelegt, in denen Wirtschaftsakteure miteinander agieren (Coase 1960; Alchian and Woodward 1988).

Aus der Pespektive der Betriebswirtschaftslehre wird Wissen üblicherweise unterschieden in (1) Wissen als Objekt und (2) Wissen als Prozess (vgl. z.B. Heckert 2002: 13). Der objektbasierte Ansatz ist vor allem als theoretische Fundierung für IT-basierte KM-Lösungen aus einer Management-Perspektive verbreitet, während die prozessorientierte Betrachtung vor allem auf philosophischen, psychologischen und soziologischen Ansätzen selbst aus einem wirtschaftswissenschaftlichen Blickwinkel beruht (vgl. Sveiby 1997: 24-50). Wenn wir annehmen, dass sich Wissen tatsächlichen managen lässt, dann muss das Ziel einer Organisation das Management von Wissen sowohl als Objekt wie auch als Prozess sein (vgl. auch Zack 1999a: 46).

Eine andere Perspektive rückt hingegen aus dem Blickwinkel der sozialen Konstruktion von Wissen in den Mittelpunkt. Aus diesem Blickwinkel ist Wissen vor allem in den Köpfen von Menschen (Wersig 2000) oder, wie es McDermott (2002) ausdrückt: “knowing is a human act”. Armbrecht et al. (2001: 29) sprechen von “Puristen”, die Wissen als das betrachten, das in und zwischen den Köpfen von Individuen ist. Konsequenz aus dieser Perspektive ist die Erkenntnis, dass wir Wissen nicht managen können: “data and information may be managed, and information resources may be managed, but knowledge (i.e., what we know) can never be managed, except by the individual knower and, even then, only imperfectly” (Wilson 2002). Wissen lässt sich nicht managen, aber wir können versuchen, die Einflussfaktoren wie beispielsweise das organisationale Umfeld zu management, die Kommunikationsprozesse zu erleichtern und die Prozesse der Wissensgenerierung und des Wissenstranfers zu verbessern.

Gerade im Hinblick auf Wissensprozesse in Forschungs- und Entwicklungsumgebungen (F&E), ist das Management von Wissen im eigentlichen Sinne nicht möglich. Wir sind mit den Worten von Armbrecht et al. (2001: 30) vielmehr daran interessiert, “knowledge flows” zu fördern. Der Expansionsprozess von Wissensflüssen erzeugt neues Wissen, das über das Wissen in den Köpfen einzelner weit hinausgeht: “This is the ‘between mind’s knowledge’ related to interactions that take place between individuals and within teams” (Armbrecht et al. 2001: 31). Und wir können hinzufügen: das innerhalb und zwischen Organisatoinen, Institutionen, Fachdisziplinen und gesellschaftlichen Sektoren stattfindet. Aus dieser Perspektive stehen bei unserer Auffassung von Wissensmanagement die Bedingungen und Einflussfaktoren der Wissensgenerierung, des Wissenstransfers, der Wissensanwendung, des Wissenserhalts und des Vergessens auf individueller, organisationaler und gesellschaftlicher Ebene im Mittelpunkt. Aus diesem Blickwinkel gewinnen Wissensgemeinschaften (knowledge communities) und Wissensnetzwerke im Wissensmanagement eine besondere Bedeutung.

*Eine ausführliche Version des Textes und die vollständigen Literaturangaben zu den aufgeführten Referenzen finden sich im hier vorgestellten Buch.